Mauretanien, in der Hafenstadt Nouadhibou. Wer hier Station macht, um der Gewalt des vielschichtigen Elends auf dem afrikanischen Kontinent zu entfliehen, gerät in einen Ausnahmezustand, in dem Politik von der Logik des Krieges kaum mehr zu unterscheiden ist. Nouadhibou ist nur ein Sinnbild für die vielen Auffanglager an den Küsten des nördlichen und westlichen Afrikas, wo offiziellen Schätzungen zufolge annähernd eine Million Menschen darauf warten, im geeigneten Moment nach Europa zu gelangen. Täglich legen nach Einbruch der Dunkelheit dutzende nur wenig hochseetaugliche Kutter ab. Mittellos, anonym und in Furcht erstarrt, tritt die menschliche Fracht in diesem Moment auf eine Bühne, auf der ihr sehnlichster Wunsch, das einfache Überleben, in den Regieanweisungen des 21. Jahrhunderts allerdings nicht die erhoffte Entsprechung findet. Die Bühne folgt keinem künstlerischen Anspruch, sie kennt nur ein Innen und ein Außen. Auf ihr tummeln sich Akteurinnen und Akteure, deren Rollen und Choreographien nicht der Vision einer gerechten Welt entsprungen sind. Die Aufstellung sucht die Abschreckung des Donnergrollens, beschwört abstruse Gefahren und trachtet nach einer Entblößung, die das Gemeinwesen der polizeilichen Kontrolle über die Ränder versichern soll. "Der Flüchtling", schreibt Giorgio Agamben in seinem Homo sacer, "der den Abstand zwischen Geburt und Nation zur Schau stellt, bringt auf der politischen Bühne für einen Augenblick jenes nackte Leben zum Vorschein, das deren geheime Voraussetzung ist." Er muss daher, so die Schlussfolgerung des italienischen Philosophen, "als das angesehen werden, was er ist, nämlich nicht weniger als ein Grenzbegriff, der die fundamentalen Kategorien des Nationalstaats, vom Nexus Nativität-Nationalität zu demjenigen von Mensch-Bürger, in eine radikale Krise stürzt". Die bei Agamben als fundamental postulierten Kategorien des Nationalstaats liegen längst in Trümmern. Sie sind in den zerstörerischen Sog einer Politik geraten, die sich hinter einer Wagenburg verschanzt – abgeschottet, mit panischem Blick in sich gekehrt, hochgerüstet und dabei unbeweglich. Nach dem millionenfachen Morden zweier Weltkriege, nach Vernichtung und Vertreibung, ist Europa weit davon entfernt, das Versprechen einer solidarischen und ökonomisch gerechten Neuordnung einzulösen. Die politischen Umwälzungen der arabischen Welt in der ersten Jahreshälfte 2011 haben zwar breiten Jubel ausgelöst, wenn dann in Folge aber Menschen zur Flucht gezwungen werden, verkriecht sich die vermeintlich geläuterte Gemeinschaft hinter ihren Barrikaden. Die Flucht, eines der grundlegendsten Rechte, zu deren Wahrung sich die europäische Gemeinschaft eigentlich verpflichtet, wird zum Dämon stilisiert, dem mit Mobilmachung zu begegnen ist – in militärischer, geistiger und auch kultureller Hinsicht. Es ist der große Auftritt einer Menschenverachtung, deren mystische Geste das Schwert gegen jene erhebt, die in ihren Herkunftsländern angesichts von globaler Preistreiberei, Despotismus und ökologischer Zerstörung keine persönliche Zukunft sehen. Nicht anders ergeht es den hundertausenden neuen Flüchtlingen, die nicht zuletzt der Einsatz europäischer Hightech-Waffen gegen Libyen zum Verlassen ihrer vertrauten Umgebung genötigt hat. Damit ist auch die Zahl der anonymen Fracht in den kleinen Booten dramatisch angewachsen, von der ein immer größerer Anteil in den Gewässern vor Sizilien, Malta oder Kreta das Leben lassen muss, weil sich die Wagenburg dagegen sträubt, den Verzweifelten in der Gefahr ausreichenden Schutz und Aufnahme zu bieten. Dass es soweit kommen konnte, ist nicht bloß das beiläufige Resultat einer europäischen Willensbildung zur Errichtung einer Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen. Frontex, so deren gängige und euphemistische Bezeichnung, ist das furchterregende Ergebnis eines bislang erfolgreichen Totalangriffs auf den allgemein verbindlichen Rechtsstaat und zugleich die Chiffre für einen tiefgreifenden Paradigmenbruch in der politischen Kultur. Die breite Zustimmung zur militärischen Abwehr von Menschen, die notgedrungen Zuflucht suchen, ist die fatale Konsequenz eines identitären Trommelfeuers, das mit dem Menschenrechtsbewusstsein im gesellschaftlichen Alltag ein folgenschweres Opfer gefordert hat. Auch in Österreich regt sich kaum Widerstand, wenn Soldatinnen und Soldaten an die obsolet geglaubte Staatsgrenze marschieren, um – vermutlich ohne es zu wissen – als säbelrasselnder Bautrupp jenes Außerhalb weiter hochzuziehen, das mit der "Höhle des Vergessens" in Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft verglichen werden kann. Darin verfügt die Willkür über das anonyme Leben, das in Vergessenheit geraten muss, um "aller Beweisbarkeit den Boden zu entziehen und dadurch die Herrschaft total werden zu lassen." Hier hat zugleich die Angst vor sozialer Vernichtung ihren Ursprung, die nicht nur gegenüber Eindringlingen eine abschreckende Wirkung erzielen soll. Sie bezweckt auch im Inneren die Bereitschaft zur völligen Unterwerfung, erzeugt Willfährigkeit, schweigende Zustimmung sowie auch offene Kollaboration. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt Agamben eine geradezu gespenstische Relevanz: "Auf der einen Seite betreiben die Nationalstaaten eine massive Neueinsetzung des natürlichen Lebens, indem sie in dessen Innerem ein sozusagen authentisches Leben und ein nacktes Leben ohne jeden politischen Wert unterscheiden […]; auf der anderen Seite werden die Menschenrechte zunehmend von den Bürgerrechten, als deren Voraussetzung sie allein Sinn ergaben, abgetrennt und außerhalb des Kontextes der Bürgerschaft verwendet, mit dem angeblichen Zweck, ein nacktes Leben zu repräsentieren und zu schützen, das in wachsendem Maß an den Rändern der Nationalstaaten anfällt, um dann wieder in einer neuen nationalen Identität rekodifiziert zu werden." Nach dem Ende der Politik windet sich die Kulturpolitik im Rinnsal ihres Sündenfalls. Mit der wissentlichen Duldung dieser "Neueinsetzung des natürlichen Lebens" hat sie sich ihres Rückgrats endgültig entledigt. Nun liegt sie darnieder – kraftlos, regungslos, ohne ideelle Haltung. Ministerien, Kunstinstitutionen, Interessengemeinschaften, Kulturvereine, Medienprojekte, aus ihren Reihen ragt schon lange nicht mehr das wirkmächtige Banner der Menschenrechte empor, deren Voraussetzung, eine kulturell vielfältige und konfliktuelle Deutung des Zivilen, ohne kulturpolitische Intervention zwangsläufig substanzlos bleiben muss. Dieses Terrain wurde der polternden Generalität einer Wagenburg überlassen, in deren Verteidigungsarchitektur die Wahrung der Grundrechte nicht vorgesehen ist. In einem Klima von Rassismus, intellektueller Abschottung und unterwürfiger Ergebenheit wurde die Flucht sukzessive zu einem Delikt umgedeutet, das nunmehr sogar mit strafrechtsähnlichen Methoden geahndet werden kann. Damit haben Militär und Sicherheitskräfte die Hoheit über eine Situation erlangt, in der ein Flüchtling, der an den Rändern der Nationalstaaten gemeinsam mit vielen anderen Marginalisierten und Kriminalisierten anfällt, zwischen den Mühlsteinen von Polizei- und Biomacht zerrieben wird. Seit vielen Jahren haben sich Kulturpolitikerinnen und Kulturpolitiker größtenteils der Einsicht verweigert, dass mit der Ausbreitung des Lagers, wie der Raum einer modernen politischen Entortung bei Agamben bezeichnet wird, der Ausnahmezustand längst zur gesellschaftlichen Regel geworden ist. Anstatt sich dafür zuständig zu fühlen und aktiv zu werden, etwa indem sich Kulturpolitik angesichts einer Diktatur der Finanzmärkte, globaler Repressionen und Umweltkatastrophen als ungehorsame Maschine der Kritik und Reflexion neu in Stellung bringt, gilt die materielle Aufmerksamkeit fast ausschließlich dem frivolen Treiben im repräsentativen Glanz von Hochkultur, traditionellem Erbe und Spektakelkunst. Nicht zuletzt damit hat sich die Wagenburg in den Rausch einer Illusion begeben, die, so noch einmal Hannah Arendt, als "fabrizierte und kunstvoll hergestellte Unwirklichkeit" den Menschen systematisch seiner Handlungsfähigkeit beraubt – mit dramatischen Folgen. Denn der Ausnahmezustand, der mit der Logik des Krieges nicht nur die Isolation und Abwehr der Flüchtlinge an Afrikas Küsten ins Blickfeld besorgter Menschenrechtsorganisationen rückt, sondern in letzter Konsequenz auch die Tragweite und zu oft tödliche Praxis des österreichischen Migrations- und Fremdenrechts, verstrickt den unsichtbaren Stacheldraht der beschaulichen Idylle unaufhörlich weiter. Die Deportation von Menschen, die für sich das Recht auf Asyl und ein korrektes Verfahren in Anspruch nehmen wollen, hat in Österreich und in der Europäischen Union derart menschenverachtende Ausmaße angenommen, dass der konstitutive Verweis auf humanistische Wurzeln im verbindlichen Gemeinschaftsrecht als besonders perfide Verhöhnung gedeutet werden muss. Auf der Bühne, auf der er sein nacktes Leben zum Vorschein bringt, steht der Flüchtling im Außerhalb. Er ist ausgeschlossen, als Anomalie und "lebender Leichnam", wie Hannah Arendt bereits vor einem halben Jahrhundert schrieb. Sie hat ihrer Nachwelt die Warnung hinterlassen, dass der Flüchtling das vielleicht augenscheinlichste Exempel statuiert, dem aber im globalen Maßstab noch weitere Bevölkerungsgruppen durch Exklusion vom öffentlichen Leben, aber auch durch Vernichtung des Menschseins folgen werden. Obdachlose, AIDS-Kranke, Roma und Sinti, von Armut Betroffene – die Zahl wächst unaufhörlich weiter an. Wer bei diesem Szenario kulturpolitisch noch irgendwie dagegen halten will, muss der Wagenburg den Kampf ansagen, ihre unheilvolle Ordnung brechen und zu einer unverzüglichen Entwaffnung übergehen. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt gegenwärtig in der Stadt, welche wie kein anderer politischer Raum das Wechselverhältnis von Innen und Außen versinnbildlicht. Damit geht aber auch der globale Trend einher, dass sich der urbane Raum immer mehr zu einem Ort der sozialen und kulturellen Konfliktaustragung kristallisiert. Hier ist die subalterne Existenz im Fokus eines hoch militarisierten Kontroll- und Sicherheitsapparats, der sich durch eine kommunale Bereitschaft zu Diversitätsmanagement, interkultureller Liebhaberei und partizipativen Projektangeboten sicherlich nicht überwinden lässt. Der Ausnahmezustand, der die stetig wachsenden Metropolen in die radikale Krise der Disziplinierung und Normierung stürzt, manifestiert sich in verschiedenen Regimes der Repräsentation, was wiederum nach einer intelligenten Auseinandersetzung um die Abbildung der "Zonen der Unbestimmtheit" in Kunst, Kultur und Medien verlangt. Das nackte Leben ist in eine adäquate Darstellung zu übersetzen, in eine Form der Visualisierung, die nicht erst recht wieder mit der Konstruktion von Gemeinschaft Identität und Zugehörigkeit verordnen will – denn davon hat die Wagenburg genug. Tatsächlich aber bieten die Zonierung und gesellschaftliche Fragmentierung eine Chance zur Wiedererstarkung sozialer Bewegungen. Hier darf auch Kulturpolitik die Hoffnung schöpfen, dass etwa die taktische Nutzung neuer Technologien einen Weg aus den "Höhlen des Vergessens" zu weisen vermag. Alleine mit dem Wissen derer, die bisher ohne Macht und Sichtbarkeit geblieben sind, ließe sich der technologischen Entwicklung ein Grundstein legen, der kollektive Ermächtigung und gesellschaftliche Veränderung nach sich zieht. Jedenfalls könnte über neue Möglichkeiten der Beteiligung auch die politische Repräsentation dorthin zurückkehren, wo bisher Zwangssuggestionen ihre symbolische Dominanz ausgebreitet haben, um schon die intellektuellen Voraussetzungen von Widerstand und Versuchen von Ausbruch und Gegengewalt zu unterdrücken. Wenn also die Lagertore durch kulturellen und medialen Widerspruch aus ihrer Verankerung gehoben werden, wenn Kulturpolitik als kulturelle Politik in Erscheinung tritt, die sich der Logik des Krieges mit allem Nachdruck widersetzt, dann bestehen auch Chancen zur Rückkehr der Flucht. Vielleicht wird der Flüchtling eines Tages in Nouadhibou auf eine Bühne treten, auf der ihn nicht mehr ein Außerhalb durch Entrechtung und Auslöschung verschlingt.
Mit Untersützung des Bundesministeriums
für Unterricht, Kunst und Kultur, Abt.IA/4.
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