03 2005

Ein Bolivarianischer Prozess für Europa!

Konstituierende Macht und der Neustart der Europäischen Verfassung

Gerald Raunig

Als Interpretation des deutlichen Neins zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden haben sich über weite Strecken der medialen und politischen Landschaften zwei Muster durchgesetzt. Zum einen die Punzierung der in den Referenda für Nein Votierenden als eines dumpfen, rückwärts gewandten Pöbels. Dieses Interpretationsmuster entspricht einer langen Tradition der Denunzierung des "Volkes" als grauer und gefährlicher, im besten Fall durch Aufklärung zu bessernder Masse. Während Instrumente der "direkten Demokratie" gern zur Absegnung größerer politischer Vorhaben eingesetzt werden, wird das Subjekt dieser Abstimmungen selbst gern als Stimmvieh betrachtet, im schlechten Fall als verblendetes, chauvinistisches, anti-europäisches. Das Problem dieses Mechanismus liegt allerdings tiefer, als es die plumpe Gegenüberstellung von liberalen, aufgeklärten Pro-EuropäerInnen und verstockten Anti-EuropäerInnen nahe legt: Volksabstimmungen sind schon in einfacheren Fragen selten eine wirkliche Befragung des Volkes im wörtlichen Sinn. Wie im Fall von Wahlkampagnen geht es hier selten um die Herstellung von Öffentlichkeit im Sinne ausgedehnter öffentlicher Diskussion in vielfältigen kleinen Zirkeln, sondern meist um die Homogenisierung der öffentlichen Meinung, um das Klotzen im massenmedialen Zirkus, das dann an den Stammtischen multipliziert wird.

Im Regelfall wirkt die so genannte direkte Demokratie dabei als Verstärkung der Herrschafts- und Mehrheitsverhältnisse, die vor allem durch Medienkonzentration gesteuert wird. Im Ausnahmefall, also zum Beispiel im Fall des Neins gegen die EU-Verfassung, scheinen allerdings oft die gleichen oder ähnliche Mechanismen, (parteipolitische) Kampagnen, Medienmacht und Stammtische am Werk. In derartigen Propagandaspektakeln dienen Referenda als direktdemokratisches Supplement zu den - ohnehin genügend problematischen - Formen repräsentativer Demokratie, in der Entscheidungen aber wenigstens scheinbar noch an gewählte RepräsentantInnen delegiert sind. Im gouvernementalen Zeitalter der Selbstregierung und Selbstkontrolle fungieren Plebiszite als glatte Spiegelung der mediendemokratischen Verhältnisse. Alles das ist - so oder so - das Zerrbild der Herstellung von Öffentlichkeit im Sinne breiter Basisprozesse.

Das zweite gängige Interpretationsmuster besteht darin, den Nein-Stimmen bis zu einem gewissen Grad recht zu geben, oder auch nur pragmatischer Weise danach zu fragen, was den Verfassungsprozess in seiner bisherigen Form retten könnte: In diesem Muster geht es hauptsächlich darum, die Inhalte der Verfassung einer weiteren kritischen Revision zu unterziehen, den Text insgesamt schlanker, verständlicher und damit akzeptabler zu machen.

Meine Interpretation würde einen dritten Weg nahe legen, einen, der die Abstimmenden weder als chauvinistische graue Masse verdammt, noch als die Hoffnung Europas überhöht, die aufgeklärt die Inhalte der Verfassung diskutiert, fürs erste zurückweist und dann - mit einem verbesserten Inhalt aufgeputzt - gesamteuropäisch-direktdemokratisch sanktioniert. In der dritten Interpretation wäre das Nein weniger als Protest gegen gewisse Inhalte zu verstehen, seien sie genau überlegt oder missverstanden, unterstellt oder wirklich problematisch. Das Nein wäre hier vielmehr ein Bruch, der sich gegen die Form des Referendums in der Frage der europäischen Verfassung wendet, vielleicht aber auch darüber hinaus: ein Bruch als Ereignis des Widerstands gegen die Form des Regiertwerdens in Europa überhaupt. Als Aufbegehren gegen den undurchsichtigen und doch so spürbaren Prozess, der sowohl Nationalstaaten als auch Superstaaten in einem opaken Machtgefüge mit transnationalen Konzernen und globalen agierenden Organisationen wie WTO, WEF, Weltbank etc. verschwimmen lässt.

Hannah Arendt hat in ihrem Buch "On Revolution" den Entstehungsprozess der US-amerikanischen Verfassung genau beschrieben. Anders als etwa im Fall der französischen Verfassung wurde die Verfassung in den USA 1787 Abschnitt für Abschnitt bis in alle Details in townhall meetings und Länderparlamenten durchdiskutiert und mit Amendments ergänzt, war also aus einer Unzahl von Körperschaften in einem vielstufigen Bottom-up-Prozess hervorgegangen. Sollte jenes Europa, das sich oft als kulturelles Bollwerk gegen die barbarisch-imperialistische Politik der USA inszeniert, mehr als zwei Jahrhunderte nach den USA, weit hinter jenen Errungenschaften zurück bleiben, die die amerikanischen verfassunggebenden Versammlungen am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt haben?

"Einer jeden Generation ihre Konstitution", meinte Jean Antoine Condorcet noch vor der Festlegung des diesbezüglichen Prinzips in der revolutionären französischen Verfassung von 1793: Eine Generation dürfe nicht künftige Generationen ihren Gesetzen unterwerfen. Antonio Negri nimmt diese Forderung wörtlich und geht damit weit über die einstige Bedeutung des pouvoir constituant, der konstutierenden Macht als verfassunggebender Versammlung hinaus. Er setzt voraus, dass konstituierende Macht nicht nur nicht aus konstituierter Macht entstehen könne, sondern dass konstituierende Macht auch keineswegs konstituierte Macht, z.B. in der Form der Verfassung instituiere.

Dass revolutionäre Theorie und reformistisch-pragmatische Praxis auch in diesem Zusammenhang weit auseinander klaffen, zeigte gerade Negri als Theoretiker der konstituierenden Macht mit seinen medialen Interventionen zur Europäischen Verfassung. Zur Verwunderung auch vieler seiner postoperaistischen KollegInnen veröffentlichte Negri nämlich vor dem französischen Referendum in der Liberation einen flammenden Appell für ein Ja zur Verfassung. Basis dieses Appells ist nach wie vor Negris Überzeugung, dass keine Verfassung Grundlage für Gleichheit sein könne, demnach etwas paradox auch einer neoliberalen Verfassung zugestimmt werden müsse, wenn damit nur ein Gegengewicht geschaffen würde, ein europäisches Gegengewicht gegen - je nachdem, auch Negri schwankt hier - ökonomische Globalisierung und "Empire" oder ganz einfach die USA.

Ich glaube, dass wir Negris Studien über die konstituierende Macht ernster nehmen sollten als Negri selbst und eine emanzipatorische Version der Auseinandersetzung mit einer europäischen Verfassung als Prozess sozialer Neuzusammensetzung verstehen können. Eine vielleicht etwas unerwartete Assoziation führt die Aufmerksamkeit - weg von den gewohnten Fragen nach der Finalité Europas oder dem Aufnahmevorgang der Türkei - in die nähere Vergangenheit Venezuelas: Als der antineoliberale Kandidat Hugo Chávez die Präsidentschaftswahlen 1998 gewann und im Februar 1999 sein Amt antrat, setzte er Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung an, die im Laufe des Jahres in einem ausgedehnten Verfahren der Mitsprache und Aktivierung der Bevölkerung die neue "Bolivarianische Verfassung" entwickelte. Chávez setzte damit zwei parallele Prozesse der konstituierenden und der konstituierten Macht in Gang: Zum einen sollte eine soziale Umwälzung von unten angestoßen werden, zum anderen wurden im Rahmen eines Re-Institutionalisierungsprozesses die Institutionen des Staates wieder funktionsfähig gemacht. Die Inhalte der neuen Verfassung wurden nicht nur breit diskutiert, sondern gehen in einigen Punkten in ihrem emanzipatorischen Potenzial über herkömmliche Verfassungstexte weit hinaus: So führt die Bolivarianische Verfassung die "partizipative Demokratie" und die "protagonistische Rolle" der Bevölkerung ein, enthält eine komplexe Version der Menschenrechte, Frauen-, Indígena- und Umweltrechte und verfolgt allgemein eine antineoliberale Linie. Darüber hinaus steht sie auch für eine konsequente Radikalisierung der verfassungsrechtlichen Überlegungen um das Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Sieyes und Jefferson.

Bei aller Verschiedenheit der ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen des lateinamerikanischen Nationalstaats und der Europäischen Union: Was außer das ungestüme Drängen des Pragmatismus spricht dagegen, die viel beschworene europäische Öffentlichkeit endlich zu schaffen, indem das Beste der venezuelanischen Gegenwart und das Beste der US-amerikanischen Vergangenheit in ein europäisches Werden investiert wird, in einen Bolivarianischen Prozess für Europa?

Literatur
Hannah ARENDT, Über die Revolution, München/Zürich: Piper 2000
Dario AZZELLINI, "Der Bolivarianische Prozess: Konstituierende Macht, Partizipation und Autonomie", in: Olaf Kaltmeier, Jens Kastner, Elisabeth Tuider (Hg.), Neoliberalismus – Autonomie – Widerstand. Soziale Bewegungen in Lateinamerika, Münster: Westfälisches Dampf­boot 2004, 196–215
Antonio NEGRI, Insurgencies. Constituent Power and the Modern State, Minneapolis/London University of Minnesota 1999
Toni NEGRI, "Repubblica Costituente. Umrisse einer konstituierenden Macht", in: Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno, Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID-Verlag 1998, 67-81
Gerald RAUNIG, Kunst und Revolution. Künstlerischer Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien: Turia+ Kant 2005, vor allem 56-62

veröffentlicht in: kulturrisse 0305

http://eipcp.net/policies/dpie/raunig1/de
Ein Bolivarianischer Prozess für Europa!