Als Interpretation des deutlichen Neins zur EU-Verfassung in Frankreich
und den Niederlanden haben sich über weite Strecken der medialen und
politischen Landschaften zwei Muster durchgesetzt. Zum einen die
Punzierung der in den Referenda für Nein Votierenden als eines dumpfen,
rückwärts gewandten Pöbels. Dieses Interpretationsmuster entspricht
einer langen Tradition der Denunzierung des "Volkes" als grauer und
gefährlicher, im besten Fall durch Aufklärung zu bessernder Masse.
Während Instrumente der "direkten Demokratie" gern zur Absegnung
größerer politischer Vorhaben eingesetzt werden, wird das Subjekt
dieser Abstimmungen selbst gern als Stimmvieh betrachtet, im schlechten
Fall als verblendetes, chauvinistisches, anti-europäisches. Das Problem
dieses Mechanismus liegt allerdings tiefer, als es die plumpe
Gegenüberstellung von liberalen, aufgeklärten Pro-EuropäerInnen und
verstockten Anti-EuropäerInnen nahe legt: Volksabstimmungen sind schon
in einfacheren Fragen selten eine wirkliche Befragung des Volkes im
wörtlichen Sinn. Wie im Fall von Wahlkampagnen geht es hier selten um
die Herstellung von Öffentlichkeit im Sinne ausgedehnter öffentlicher
Diskussion in vielfältigen kleinen Zirkeln, sondern meist um die
Homogenisierung der öffentlichen Meinung, um das Klotzen im
massenmedialen Zirkus, das dann an den Stammtischen multipliziert wird.
Im
Regelfall wirkt die so genannte direkte Demokratie dabei als
Verstärkung der Herrschafts- und Mehrheitsverhältnisse, die vor allem
durch Medienkonzentration gesteuert wird. Im Ausnahmefall, also zum
Beispiel im Fall des Neins gegen die EU-Verfassung, scheinen allerdings
oft die gleichen oder ähnliche Mechanismen, (parteipolitische)
Kampagnen, Medienmacht und Stammtische am Werk. In derartigen
Propagandaspektakeln dienen Referenda als direktdemokratisches
Supplement zu den - ohnehin genügend problematischen - Formen
repräsentativer Demokratie, in der Entscheidungen aber wenigstens
scheinbar noch an gewählte RepräsentantInnen delegiert sind. Im
gouvernementalen Zeitalter der Selbstregierung und Selbstkontrolle
fungieren Plebiszite als glatte Spiegelung der mediendemokratischen
Verhältnisse. Alles das ist - so oder so - das Zerrbild der Herstellung
von Öffentlichkeit im Sinne breiter Basisprozesse.
Das zweite
gängige Interpretationsmuster besteht darin, den Nein-Stimmen bis zu
einem gewissen Grad recht zu geben, oder auch nur pragmatischer Weise
danach zu fragen, was den Verfassungsprozess in seiner bisherigen Form
retten könnte: In diesem Muster geht es hauptsächlich darum, die
Inhalte der Verfassung einer weiteren kritischen Revision zu
unterziehen, den Text insgesamt schlanker, verständlicher und damit
akzeptabler zu machen.
Meine Interpretation würde einen dritten
Weg nahe legen, einen, der die Abstimmenden weder als chauvinistische
graue Masse verdammt, noch als die Hoffnung Europas überhöht, die
aufgeklärt die Inhalte der Verfassung diskutiert, fürs erste
zurückweist und dann - mit einem verbesserten Inhalt aufgeputzt -
gesamteuropäisch-direktdemokratisch sanktioniert. In der dritten
Interpretation wäre das Nein weniger als Protest gegen gewisse Inhalte
zu verstehen, seien sie genau überlegt oder missverstanden, unterstellt
oder wirklich problematisch. Das Nein wäre hier vielmehr ein Bruch, der
sich gegen die Form des Referendums in der Frage der europäischen
Verfassung wendet, vielleicht aber auch darüber hinaus: ein Bruch als
Ereignis des Widerstands gegen die Form des Regiertwerdens in Europa
überhaupt. Als Aufbegehren gegen den undurchsichtigen und doch so
spürbaren Prozess, der sowohl Nationalstaaten als auch Superstaaten in
einem opaken Machtgefüge mit transnationalen Konzernen und globalen
agierenden Organisationen wie WTO, WEF, Weltbank etc. verschwimmen
lässt.
Hannah Arendt hat in ihrem Buch "On Revolution" den
Entstehungsprozess der US-amerikanischen Verfassung genau beschrieben.
Anders als etwa im Fall der französischen Verfassung wurde die
Verfassung in den USA 1787 Abschnitt für Abschnitt bis in alle Details
in townhall meetings und Länderparlamenten durchdiskutiert und mit
Amendments ergänzt, war also aus einer Unzahl von Körperschaften in
einem vielstufigen Bottom-up-Prozess hervorgegangen. Sollte jenes
Europa, das sich oft als kulturelles Bollwerk gegen die
barbarisch-imperialistische Politik der USA inszeniert, mehr als zwei
Jahrhunderte nach den USA, weit hinter jenen Errungenschaften zurück
bleiben, die die amerikanischen verfassunggebenden Versammlungen am
Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt haben?
"Einer jeden
Generation ihre Konstitution", meinte Jean Antoine Condorcet noch vor
der Festlegung des diesbezüglichen Prinzips in der revolutionären
französischen Verfassung von 1793: Eine Generation dürfe nicht künftige
Generationen ihren Gesetzen unterwerfen. Antonio Negri nimmt diese
Forderung wörtlich und geht damit weit über die einstige Bedeutung des
pouvoir constituant, der konstutierenden Macht als verfassunggebender
Versammlung hinaus. Er setzt voraus, dass konstituierende Macht nicht
nur nicht aus konstituierter Macht entstehen könne, sondern dass
konstituierende Macht auch keineswegs konstituierte Macht, z.B. in der
Form der Verfassung instituiere.
Dass revolutionäre Theorie und
reformistisch-pragmatische Praxis auch in diesem Zusammenhang weit
auseinander klaffen, zeigte gerade Negri als Theoretiker der
konstituierenden Macht mit seinen medialen Interventionen zur
Europäischen Verfassung. Zur Verwunderung auch vieler seiner
postoperaistischen KollegInnen veröffentlichte Negri nämlich vor dem
französischen Referendum in der Liberation einen flammenden Appell für
ein Ja zur Verfassung. Basis dieses Appells ist nach wie vor Negris
Überzeugung, dass keine Verfassung Grundlage für Gleichheit sein könne,
demnach etwas paradox auch einer neoliberalen Verfassung zugestimmt
werden müsse, wenn damit nur ein Gegengewicht geschaffen würde, ein
europäisches Gegengewicht gegen - je nachdem, auch Negri schwankt hier
- ökonomische Globalisierung und "Empire" oder ganz einfach die USA.
Ich
glaube, dass wir Negris Studien über die konstituierende Macht ernster
nehmen sollten als Negri selbst und eine emanzipatorische Version der
Auseinandersetzung mit einer europäischen Verfassung als Prozess
sozialer Neuzusammensetzung verstehen können. Eine vielleicht etwas
unerwartete Assoziation führt die Aufmerksamkeit - weg von den
gewohnten Fragen nach der Finalité Europas oder dem Aufnahmevorgang der
Türkei - in die nähere Vergangenheit Venezuelas: Als der
antineoliberale Kandidat Hugo Chávez die Präsidentschaftswahlen 1998
gewann und im Februar 1999 sein Amt antrat, setzte er Wahlen zu einer
verfassunggebenden Versammlung an, die im Laufe des Jahres in einem
ausgedehnten Verfahren der Mitsprache und Aktivierung der Bevölkerung
die neue "Bolivarianische Verfassung" entwickelte. Chávez setzte damit
zwei parallele Prozesse der konstituierenden und der konstituierten
Macht in Gang: Zum einen sollte eine soziale Umwälzung von unten
angestoßen werden, zum anderen wurden im Rahmen eines
Re-Institutionalisierungsprozesses die Institutionen des Staates wieder
funktionsfähig gemacht. Die Inhalte der neuen Verfassung wurden nicht
nur breit diskutiert, sondern gehen in einigen Punkten in ihrem
emanzipatorischen Potenzial über herkömmliche Verfassungstexte weit
hinaus: So führt die Bolivarianische Verfassung die "partizipative
Demokratie" und die "protagonistische Rolle" der Bevölkerung ein,
enthält eine komplexe Version der Menschenrechte, Frauen-, Indígena-
und Umweltrechte und verfolgt allgemein eine antineoliberale Linie.
Darüber hinaus steht sie auch für eine konsequente Radikalisierung der
verfassungsrechtlichen Überlegungen um das Ende des 18. Jahrhunderts
zwischen Sieyes und Jefferson.
Bei aller Verschiedenheit der
ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen des lateinamerikanischen
Nationalstaats und der Europäischen Union: Was außer das ungestüme
Drängen des Pragmatismus spricht dagegen, die viel beschworene
europäische Öffentlichkeit endlich zu schaffen, indem das Beste der
venezuelanischen Gegenwart und das Beste der US-amerikanischen
Vergangenheit in ein europäisches Werden investiert wird, in einen
Bolivarianischen Prozess für Europa?
Literatur
Hannah ARENDT, Über die Revolution, München/Zürich: Piper 2000
Dario AZZELLINI, "Der
Bolivarianische Prozess: Konstituierende Macht, Partizipation und
Autonomie", in: Olaf Kaltmeier, Jens Kastner, Elisabeth Tuider (Hg.), Neoliberalismus
– Autonomie – Widerstand. Soziale Bewegungen in Lateinamerika,
Münster:
Westfälisches Dampfboot 2004, 196–215
Antonio NEGRI, Insurgencies. Constituent Power and the Modern State, Minneapolis/London University of Minnesota 1999
Toni
NEGRI, "Repubblica Costituente. Umrisse einer konstituierenden Macht",
in: Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno, Umherschweifende
Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin: ID-Verlag
1998, 67-81
Gerald RAUNIG, Kunst und Revolution. Künstlerischer
Aktivismus im langen 20. Jahrhundert, Wien: Turia+ Kant 2005, vor allem
56-62
veröffentlicht in: kulturrisse 0305