Die Frage, die wir auf diesem Podium diskutieren sollen, lautet: „Sind Kulturpolitiken Teil von Demokratiepolitiken?“ Um allzu allgemeine Beteuerungen über die Bedeutung der Kultur in demokratischen Gesellschaften zu vermeiden (die zumeist mit verschiedenen normativen Ideen darüber einhergehen, was als „Kultur“ verstanden werden sollte und was nicht), werde ich versuchen, diese Frage so wörtlich wie möglich zu nehmen und sie so direkt wie möglich zu beantworten. Es gibt dabei jedoch ein gewisses Problem, das die Art und Weise, wie die Frage gestellt ist, selbst betrifft: nämlich, dass es sich um eine Entscheidungsfrage handelt. Mehr noch, angesichts der Tatsache, dass wir uns hier treffen, um wünschenswerte Perspektiven für zukünftige europäische Kulturpolitiken zu diskutieren, ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass irgendjemand hier die Frage mit „Nein“ beantworten würde. Die Art und Weise, wie die Frage gestellt ist, scheint also, im gegebenen Kontext, bereits eine bejahende Antwort zu implizieren oder wenigstens nahe zu legen. Und doch ist es ziemlich offensichtlich, dass dies ein allzu einfacher Zugang zu dieser Frage wäre. Was aber steht dann in der Frage, ob Kulturpolitiken Teil von Demokratiepolitiken sind, eigentlich auf dem Spiel?
Um einen angemessenen Ausgangspunkt zu finden, erscheint es sinnvoll, einen Blick auf die historische Entwicklung von so etwas wie „Kulturpolitiken“ zu werfen. Dies führt uns grundsätzlich – auch wenn wir einige wichtige Unterschiede in verschiedenen europäischen Ländern berücksichtigen müssten – zurück ins 19. Jahrhundert. Die Idee einer „Kulturpolitik“, jedenfalls in unserem heutigen Verständnis, taucht auf, als der ältere und breitere Sinn von „Kultur“ (der auf das späte 18. Jahrhundert zurückgeht) als allgemeiner Prozess einer historischen Entwicklung, die vorrangig in intellektuellen, geistigen und ästhetischen Begriffen gedacht wurde, auf die „Werke und Praktiken intellektueller und insbesondere künstlerischer Aktivität“ eingeengt wurde[1], das heißt, als die Idee eines allgemeinen historischen Prozesses, der sozusagen seine eigene Symbolisierung in sich trägt, auf ein spezifisches und abgesondertes Feld in der Gesellschaft übertragen wird. Auf diese Weise kann „Kultur“ als spezifisches Referenzfeld für entsprechende Politiken konstituiert werden. Zugleich erweist sich dieses spezifische Referenzfeld, insofern es weiterhin auf einen allgemeineren historischen Prozess – wie das „Schicksal von Nationen“ – bezogen wird, als wahres ideologisches Schlachtfeld, und zwar sowohl hinsichtlich der Rivalität zwischen verschiedenen Nationalstaaten als auch hinsichtlich der Konflikte zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten.
Sofern wir indes nicht auf dem historischen Auftauchen des Wortes bestehen, gibt es jedoch eine andere Bedeutung von „Kulturpolitik“, die sogar noch älter ist als das moderne Verständnis von „Kultur“ als eines allgemeinen Prozesses historischer Entwicklung, der auf die Lebensweisen verschiedenen sozialer Gruppen oder Totalitäten (wie Nationen, so genannte „Kulturkreise“ etc.) bezogen wird. Diese Bedeutung kann in den Kontext der so genannten „Staatwissenschaft“ oder „Polizeiwissenschaft“ zurückverfolgt werden, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts im französischen Ancien Régime, in den deutschsprachigen Ländern zur Zeit des Kameralismus sowie im merkantilistischen England entwickelt hat; das heißt, sie kann in den Kontext einer empirischen Wissenschaft zurückverfolgt werden, die, auf der Grundlage einer systematischen Erfassung der Gesamtheit sozialer Angelegenheiten und Lebensbereiche im Territorialstaat, die Aufgaben der Regierung und Verwaltung zu definieren versuchte. In diesem Kontext einer „zunehmenden Gouvernementalisierung des sozialen Lebens“[2] bezieht sich der Begriff der „Kultur“ nicht nur auf die Gesamtheit des sozialen Lebens als solchen, sondern erscheint insbesondere als Mittel, das den sozialen Zusammenhalt garantieren soll, und zwar dadurch, dass die Gedanken und Verhaltensweisen der Menschen auf die einigende Autorität des Staates hin orientiert werden. „Kultur“ ist noch nicht ein spezifisches Feld des sozialen Lebens unter anderen, das als solches politisch reguliert werden könnte, sondern bezieht sich vielmehr auf die „Bevölkerung“ als ein Ganzes und wird daher zugleich als ein fundamentales Instrument politischer Regulierung überhaupt verstanden, das auf die politische Konstruktion der Totalität eines „Volks“ abzielt. Als Spur dieser Bedeutung finden wir beispielsweise den interessanten Begriff der „Kulturpolizei“ noch in deutschsprachigen Traktaten über den Aufbau des Staates der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.[3] Erst die fortschreitende Separierung und Fragmentierung sozialer Felder in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und die gleichermaßen bürgerliche Idee einer inneren Autonomie der „Kultur“ (im Sinne der Produktion ästhetischer und intellektueller Werke) drängt diese erste präzise Formulierung einer „Kulturpolitik“ zurück – ohne sie jedoch vollständig zu ersetzen.
Wenn wir dieses in die Zeit der absolutistischen Regime zurückreichende Vermächtnis des Begriffs der „Kultur“ und seiner politischen Funktion im Kontext der Formierung moderner Verwaltungsstaaten im Sinn behalten, müsste die Antwort auf unsere Ausgangsfrage, ob Kulturpolitiken Teil von Demokratiepolitiken sind, lauten: Kulturpolitiken sind Teil einer spezifischen Form des Regierens, aber nicht notwendigerweise von Demokratiepolitiken. Und dies würde wiederum eine zweite Frage erforderlich machen: Wie lässt sich sicherstellen, dass Kulturpolitiken Teil von Demokratiepolitiken sind, bzw. – im Falle, dass sie sich nicht als demokratisch erweisen sollten – wie können Kulturpolitiken demokratisiert werden? Oder noch anders, um es auf eine vielleicht etwas überspitzte Art und Weise zu sagen: Wie lässt sich „Kulturpolizei“ in demokratische „Kulturpolitiken“ transformieren?
Um diese Frage mit Blick auf die möglichen Ziele europäischer Kulturpolitiken zu diskutieren, ist es notwendig, einen kurzen analytischen Blick darauf zu werfen, wie Kulturpolitiken bisher im Zusammenhang von EU-Politiken verstanden wurden. Zunächst stoßen wir auf den Umstand, dass die Idee „europäischer Kulturpolitiken“ sich präzise zwischen den beiden historischen Bedeutungen aufzuspannen scheint, die ich gerade beschrieben habe. Während ein Programm wie „Kultur 2000“ gewiss auf die Förderung „stärkerer Zusammenarbeit“ und „gemeinsamer Vorhaben“ im kulturellen Feld zielt, definiert es seine Ziele doch gleichzeitig als „Förderung eines den Europäern gemeinsamen Kulturraums“. Einer der wesentlichen Gründe dafür ist, wenn wir dem „Beschluss des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates über das Programm Kultur 2000“ folgen, dass Kultur nicht nur als „Wirtschaftsfaktor“, sondern auch als „ein Faktor der sozialen und staatsbürgerlichen Integration“ betrachtet wird und ihr daher „eine wichtige Funktion“ in der Bewältigung von Herausforderungen wie dem „sozialen Zusammenhalt“ innerhalb der Europäischen Union zukommt. (Es ist übrigens einigermaßen bemerkenswert, in einem Beschluss über ein kulturpolitisches Programm von der Idee einer europäischen Staatsbürgerschaft zu lesen, für die es im Rahmen der EU noch keinerlei formal-rechtliche Grundlage gibt.) Aus diesem Grund, so heißt es im „Beschluss“ weiter, bedürfe es „einer stärkeren Hervorhebung ihrer [gemeint sind die „europäischen Bürger“] gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln als Schlüsselelement ihrer Identität und ihrer Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, die sich auf Freiheit, Demokratie, Toleranz und Solidarität gründet“.
Was wir in diesen Formulierungen am Werk sehen, ist ein unmittelbares Band (das zugleich vorausgesetzt und konstruiert wird) zwischen den Projekten, Produktionen und Praktiken im kulturellen Feld, die gefördert werden sollen, und der politischen Konstruktion einer Gesellschaft, die jedoch als ihrer politischen Konstruktion selbst präexistent angenommen wird – und zwar insbesondere insofern „die gemeinsamen kulturellen Werte und Wurzeln“ es sind, die eine staatsbürgerliche „Identität“ und „Zugehörigkeit“ zu einer demokratischen Gesellschaft gewährleisten (oder jedenfalls entscheidend dazu beitragen) sollen. Einfacher gesagt: Es liegt eine fundamentale Zweideutigkeit in diesem Diskurs, die die starre Idee „kultureller Werte und Wurzeln“ als „Schlüsselelement“ einer europäischen Staatsbürgerschaft einerseits und die Idee einer „Gesellschaft, die sich auf Freiheit, Demokratie, Toleranz und Solidarität gründet“, andererseits nebeneinander stellt und verflicht – und zwar auf eine Weise, die dazu neigt, beide miteinander zu identifizieren. Es mag hier die Bemerkung ausreichen, dass dies nicht im Mindesten Gewähr für Kulturpolitiken als Teil von Demokratiepolitiken bietet (noch auch für eine Demokratisierung von Kulturpolitiken), sondern vielmehr eine „Kulturalisierung“ der Art und Weise befördert, wie wir Demokratie verstehen – eine Kulturalisierung, deren Auswirkungen wir sowohl auf der Ebene von Kulturpolitik im engen Sinn als auch auf der Ebene allgemeinerer, sich auf „Kultur“ berufender Perspektiven auf die politische Entwicklung der Europäischen Union beobachten können.[4]
Diese Kulturalisierung hat letztlich zur Folge, was wir als „fortgesetzte Zweideutigkeit“ des vorherrschenden Diskurses über „europäische Kultur“ begreifen könnten. Ich werde mich hier darauf beschränken, drei grundlegende Aspekte dieser fortgesetzten Zweideutigkeit zu betonen:
1) die Zweideutigkeit des „europäischen Raumes“, d. h. den Umstand, dass – vor allem nach 1989 – eines der wesentlichen Motive für das zunehmende Interesse an „europäischer Kultur“ insbesondere im Zusammenhang der Erweiterungsdebatten in dem Versuch gesehen werden muss, zu einer auf Kultur basierenden Definition darüber, was Europa ist und wo es endet, zu gelangen, der das politische Projekt der EU auf eine gewisse kulturelle Konsistenz bezieht.
2) die Zweideutigkeit der „kulturellen Differenz“, d. h. den Umstand, dass dieser Diskurs über „europäische Kultur“ eine kulturelle Demarkationslinie zwischen europäischen und nicht-europäischen Kulturen etabliert, der zwei unterschiedliche Verständnisse von „kultureller Differenz“ entsprechen: Diversität (basierend auf einem „gemeinsamen kulturellen Erbe“) einerseits und Alterität (Andersheit) andererseits; diese Demarkationslinie betrifft im Übrigen nicht allein eine geographische Trennung von „Kulturräumen“, sondern schließt auch verschiedene Gruppen von innerhalb der EU lebenden MigrantInnen aus der „Europäität“ aus;
3) die Zweideutigkeit des „europäischen Volks“, d. h. den Umstand, dass dieser Diskurs, während er für sich in Anspruch nimmt, einen europäischen demos (oder eine europäische Gesellschaft, die auf Demokratie gegründet ist) zu befördern, vielmehr die Konstruktion der europäischen Bevölkerung im Sinne eines europäischen ethnos (bzw. dessen, was Etienne Balibar als fiktive Ethnizität bezeichnet hat) befördert.
Europäische Kulturpolitiken – oder jedenfalls der Diskurs, in den sie eingebettet sind – erscheinen so in aller Klarheit als Teil einer Strategie des Regierens, ohne sich jedoch in überzeugender Weise als demokratisch zu erweisen. Es ist präzise diese fundamentale Zweideutigkeit des Diskurses über „europäische Kultur“, von der wir ausgehen sollten, wenn es um eine Demokratisierung europäischer Kulturpolitiken geht: durch die Förderung offener Diskussionen im kulturellen Feld über das politische Projekt der Europäischen Union (sowie von Diskussionen über eine mögliche Neudefinition von Kulturpolitik und kulturellen Aktivitäten in einem supranationalen Rahmen) anstatt der Reduktion dieses politischen Projekts auf ein gemeinsames kulturelles Erbe; durch die Berücksichtigung der Prozesse sozialer Neuzusammensetzung europäischer Gesellschaften, insbesondere in einer postkolonialen Situation sowie mit Blick auf rezente und gegenwärtige Migrationen, anstatt des Beharrens auf einer europäischen kulturellen Identität als einer Art „Gesamtsumme“ verschiedener nationaler oder regionaler Identitäten; und schließlich durch die Stärkung der eigentlichen Mittel, die notwendig sind, um einen europäischen demos entstehen zu lassen – wie nicht-kommerzielle Öffentlichkeiten, Partizipationsmöglichkeiten jenseits nationaler oder Disziplinengrenzen, Sprachkompetenzen, multilinguale Projekte etc. –, anstatt der Anrufung einer fiktiven europäischen Ethnizität.
Gewiss, all dies mag zu einer weniger feierlichen Art führen, wie über „Kultur“ gesprochen wird. Es könnte uns jedoch in die Lage setzen, über die soziale Produktivität und die demokratischen Potenziale nachzudenken, die sich in dem entfalten, was sich historisch als „kulturelles Feld“ konstituiert hat, anstatt Demokratie selbst auf einen „kulturellen Wert“ oder einen Teil eines „kulturellen Erbes“ zu reduzieren. Andernfalls laufen wir Gefahr, in jenem Fetischismus verfangen zu bleiben, den Walter Benjamin in den 1930er-Jahren als dem Kulturbegriff selbst innewohnend beschrieben hat: „als ein[em] Inbegriff von Gebilden, die unabhängig, wenn nicht von dem Produktionsprozess, in dem sie entstanden, so doch von dem, in welchem sie überdauern, betrachtet werden“[5]. Wir sollten uns der Tatsache sehr bewusst sein, dass Benjamins Beobachtung nicht nur auf Ausstellungsstücke und historische Sammlungen bezogen werden kann, sondern auch auf ganze Gesellschaften, solange sie einzig und allein in Begriffen der „Kultur“ verstanden werden. Und wir können wohl kaum wollen, dass europäische Gesellschaften zu dieser Art von Gebilde werden.
Der
vorliegende Text basiert auf einem Podiumsstatement im Rahmen der Konferenz
„More Europe – Foreign Cultural Policies in and beyond Europe“ in Warschau
(9.–11. Oktober 2003), die vom Adam Mickiewicz Institut sowie dem
Österreichischen Kulturforum Warschau organisiert wurde.
[1] Vgl. R. Williams, Keywords. A Vocabulary of Culture and Society, London: Fontana 1976, S. 90.
[2] Vgl. T. Bennett, „Putting Policy into Cultural Studies“, in: L. Grossberg / C. Nelson / P. A. Treichler, Cultural Studies, London / New York: Routledge 1992, S. 26.
[3] Vgl. G. Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 326.
[4] Vgl. S. Nowotny, „Kultureuropapolitik“, in: eipcp – European Institute for Progressive Cultural Policies (Hg.), Anticipating European Cultural Policies /
Europäische Kulturpolitiken vorausdenken, von Th. Kaufmann und Gerald
Raunig. Mit einem Kommentar von S. Nowotny, Wien 2003, S. 87–95. http://eipcp.net/policies/aecp/nowotny/de
[5] W. Benjamin, „Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker“, in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 477.