08 2005

2015 [Einleitung]

Gerald Raunig

Kulturpolitik in Europa ist nicht nur ein marginales Politikfeld im Kompetenzbereich der EU, sondern vages Terrain auch hinsichtlich entsprechender Forschung und Theoriebildung.. Wenn auch einigermaßen zahlreiche empirische Studien zu einzelnen Teilbereichen des Themas vorliegen, bleiben diese jedoch nicht nur regional beschränkt oder thematisch beengt, sondern auch in den meisten Fällen instrumentell, trivial und untertheoretisiert. Umso schwieriger ist es, dem Wollen der vorliegenden Studie einigermaßen seriös zu entsprechen, nämlich Aussagen zu treffen, die die mittelfristigen Perspektiven dieses komplexen Feldes betreffen. Um nun - auch wenn das einigen Charme hätte - nicht allzusehr der poetischen Speku­lation oder Fiktion anheimzufallen, haben Studienkoordinator Raimund Minichbauer und unser Institut die Annäherung an dieses Vorhaben durch folgende Vorbedingungen abgesichert.

  1. Statt eine allumfassende Studie zu verfassen, die einen totalisierenden Blick auf ganz Europa wirft (wo immer die Grenzen dieses Europas auch phantasiert werden), haben wir sieben ExpertInnen aus verschiedenen Regionen ersucht, gerade die regionalen Spezifizitäten und Disparitäten ihrer kultur­politischen Erfahrungen herauszuarbeiten. Damit werden sowohl die jeweiligen Besonderheiten als auch die Ähnlichkeiten verschiedener nationaler und regionaler Tendenzen in der Kulturpolitik augenfällig.

  2. Diese Reports haben wir ergänzt durch einen kritischen Blick auf die spezifischen Entwicklungen der EU-Kulturpolitik. Die Planungen für das zukünftige EU-Kulturprogramm, das als Nachfolger von Culture 2000 in den Jahren 2007-2013 die europäische Kulturpolitik operationalisieren soll, waren dabei ein hilfreicher Gradmesser.

  3. Um zukünftige Kulturpolitiken halbwegs realistisch einschätzen zu können, zeichnen die einzelnen Beiträge spezifische Linien aus den Entwicklungen der letzten fünf bis zehn Jahre. Diese Linien in die Zukunft zu verlängern, aus heterogener Erfahrung und Reflexion Bilder möglicher kulturpolitischer Arrangements bis ins Jahr 2015 zu projizieren, ist die Methode dieser Studie.

  4. Auf der Basis der so formulierten Einschätzungen der kulturpolitischen Entwicklungen - so wünschten wir uns das - sollten auch Schlüsse zu ziehen sein für progressive Ansätze zukünftiger Kulturpolitik in Europa und vor allem für die widerständigen Positionierungen eines Felds von KulturproduzentInnen, das die Kritik der Kulturpolitik in Europa als notwendigen Bestandteil der eigenen Arbeit versteht.

Manchmal scheint es, als ob die Verhältnisse und Politikformen, in und mit denen wir in Europa leben, sich einfach zu jenen rigiden Ausformungen zurück entwickeln würden, die in den 50er Jahren des ver­gangenen Jahrhunderts in je verschiedenen Weisen beide Seiten des Kalten Kriegs geprägt haben: Autoritarismus, Top-Down-Konsens und rigide Exklusion von Minderheiten im allgemeinen, Verfolgung politischer KünstlerInnen, Abschaffung missliebiger Institutionen, Zensur und Kriminalisierung im Bereich der Kulturpolitik. 1968 und die 1970er Jahre könnten in dieser Hinsicht als kurzer Bruch gesehen werden, dem die Wiederherstellung der beengt-geordneten Verhältnisse in den darauffolgenden Jahrzehnten bis ins neue Jahrhundert hinein folgt und weiterhin folgen wird.

Bei genauerer Betrachtung stellt sich die Entwicklung der letzten 50 Jahre jedoch weniger als kurz unter­brochene Wiederholung derselben reaktionären Muster dar, sondern eher als komplexes und sukzessives Fortschreiten des neoliberalen Kapitalismus und immer schnellere Aneignung der jeweiligen Widerstands­formen. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren die europäischen Nationalstaaten in West­europa noch einigermaßen so konstruiert, dass die Staatsapparate im Wesentlichen die kapitalistische Maschine regulierten. Ohne den molekularen Unruheherden, den Mikro-Faschismen der verschiedenen Formen des Faschismus der ersten Hälfte des Jahrhunderts größeren Platz einzuräumen, waren diese molaren Staatsapparate Modelle harter Segmentarität, der Totalisierung und Zentralisierung.

Dementsprechend hatte Kulturpolitik vor allem den Auftrag, die Nationen als Kulturnationen einzukerben und nationale Identitäten zu stärken. Staatliche Angriffe auf avantgardistische (oder einfach nur moder­ne) Kunst konnten - in Österreich etwa auch noch teilweise in Kontinuität zum NS-Regime - zur Stärkung dieses kulturpolitischen Autoritarismus beitragen.

Mit den molekularen Revolutionen der 1960er und 1970er Jahre wurde dieses Paradigma der national­staatlichen harten Segmentarität in Westeuropa endgültig durchbrochen. Auf kulturpolitischer Ebene entstand eine Phase der Erprobung emanzipatorischer Konzepte, die die westeuropäische Linke interes­santer Weise hauptsächlich gerade der Kulturpolitik der frühen Sowjetunion (Proletkult, LEF, Produktivis­mus, Konstruktivismus) entnahm. "Kultur für alle" und "Kultur von allen" sollten ein zweites Mal die Kunst auf die Straße und ins Leben bringen und scheiterten diesmal nicht an der Strukturalisierung des Staats­apparats und der Kulturpolitik wie in Stalins Sowjetunion, sondern an den Adaptierungspotenzialen des postfordistischen Kapitalismus.

Hier kehrt sich die Aneignung vollends um: Die Staatsapparate sind nur noch Teile der kapitalistischen Ma­schine, die allenfalls entgegengesetzt oder hinzugefügt werden können. Während die Bewegung von De- und Reterritorialisierung in den Nachkriegsjahren noch als Übercodierung der kapitalistischen Maschi­ne durch den Staatsapparat verstanden werden kann, ist im Kontext der als Globalisierung gelabelten Entwicklung zunehmend von einer umgekehrten Appropriation und Codierung der Staatsapparate durch die Maschine zu sprechen. Die 1968er-Generation ist Teil dieser Deterritorialisierung, sie tritt vor allem in ihren antimilitaristischen, feministischen und nicht-repräsentationistischen Strömungen gegen den autori­tä­ren Nationalstaat auf, leitet damit allerdings in den darauffolgenden Jahrzehnten auch zunehmend die Zerreibung des Wohlfahrtsstaats ein. Das betrifft auch die Rücknahme staatlicher Kulturpolitik und -finan­zierung. Statt immer neue Wellen molekularer Kämpfe mitzugestalten, verlieren die emanzipatorisch-kulturpolitischen Konzepte der 1970er Jahre in den 1980er und 1990er Jahren ihre politische Brisanz und stülpen sich um in ein neues Paradigma des Spektakels, der Kreativität und der Produktivität.

Heute finden sich in der aktuellen Praxis wie in der Programmatik von Kulturpolitiken in Europa Spuren aus allen drei oben skizzierten Phasen:

  1. Das alte Pathos des Kulturbegriffs erscheint als Abglanz der autoritären 1950er in Floskeln, die die Kultur nach wie vor als identitätsbildendes Instrument beschwören, selbst in ihrer aktuellsten Form der "europäischen Identität" kaum ihre Ursprünge im Kulturalismus, Kulturhumanismus und Kulturessenzialismus früherer Jahrhunderte verhehlen können. Gepaart mit der alten kolonialen Idee, Kultur würde sich trefflich als Vorhut der Expansion oder als Werbeinstrument für die Nation (oder Supernation) eignen, ist die kulturelle Identität (vor allem als europäische) ein Hit für alle möglichen Verbindungen identitaristischer und kulturkämpferischer Politik. Auch auf der Ebene EUropäischer Grundsatzpapiere verbinden sich unter der Oberfläche der wohlklingenden Phrasen gerne kulturalistische (Gemeinschaft durch kulturelle Identität), ökonomische (Standortpolitik) und exklusionistische Phantasmen (Abgrenzung gegenüber dem Anderen Europas, sei es islamisch, amerikanisch oder außerirdisch).

  2. Mit der Adaption, oder besser: Perversion der emanzipatorischen Praktiken der 1970er wird auch das Feld der Kulturpolitik immer mehr zu einem Aktionsraum neoliberaler Gouvernementalität: Partizipation wird obligatorisch, Kreativität zum Imperativ, Transparenz zur totalen Überwachung, lebenslanges Lernen gerät zur Drohung, Vermittlung meint ständige soziale Kontrolle, und Basis­demokratie die Entwicklung von Software, mit deren Hilfe WerberInnen für Kulturförderung sich gegenseitig bewerten. Diverse Auslagerungsmodelle und MediatorInnen-Positionen formieren ein Netz von Abhängigkeiten, die weit komplexer und durchgängiger fungieren als die alte Fürst-Untertan-Hierarchie früherer Kulturförderung. Autonome Kulturinitiativen ereilt gerade am heiklen Aspekt der Frage ihrer Autonomie ein ähnliches Schicksal wie den autonomen Genie-Künstler, sie werden notwendige Agentinnen gouvernementaler Kontrolle.

  3. Jedoch, neben den kontrollgesellschaftlichen Instrumenten der Internalisierung der Kontrolle in ein immer komplexeres Gefüge von Institutionen und NGOs (und in das Selbst der AkteurInnen) taucht auch die alte disziplinierende Autorität des Staates wieder auf, diesmal aber eher als Effekt neoliberaler Ökonomisierung und unbändiger Deregulierung, die im Kulturbereich in Form von Forderungen nach "Drittmitteln", Public-Private-Partnership, Publikumszahlen, ökonomischen Evaluationen, Kulturförderung für Creative Industries oder einfach nur der Ersetzung staatlicher Verantwortung durch private Ressourcen in Erscheinung tritt. Im Fortschreiten des postfordis­ti­schen Kapitalismus scheint hier ein Übergang von einer vermeintlich liberalen Phase in eine autori­täre vonstatten gegangen, in der Ökonomisierung und Sicherheitsdispositiv einander er­gän­zen. Überall dort, wo diese Tendenzen angegriffen werden, wird es - verbunden mit der breiteren Bewegung der Verdrängung kritischer Elemente - zur Ausbreitung des Ausnahmefalls von Krimi­na­lisierung und direkter Repression kommen. Aktuelle Beispiele dieser erneuten Wendung zum Autoritären auch in der Kulturpolitik wären etwa die je äußerst verschiedenen Fälle der VolxThea­terKarawane in Italien, des Critical Art Ensembles und Steve Kurtz in den USA oder der "Achtung, Religion"-Ausstellung des Sakharov-Center Moskau.

Für die kommende Zeit ist zu erwarten, dass diese drei Linien des Identitätskulturalismus, der gouverne­mentalen Kontrolle und der neuerlichen autoritären Interventionen von Seiten eines ansonsten seinen Rückzug inszenierenden Nationalstaates sich noch stärker verschränken. Damit einher gehen die Gefah­ren eines weiteren inhaltlichen Autonomieverlusts von Kunstproduktion, Kulturarbeit und Kulturpolitik, der zunehmenden Vereinnahmung des Politischen in der Kunst und der Verknappung der Gelder für demokratiepolitische und -kritische Aspekte in Kunst und Kultur. Für die Prognose von Entwicklungen für Kulturpolitik und Kulturförderung in Europa in den nächsten zehn Jahren ist dieser Zusammenhang wichtigster Referenzpunkt, der auf allen Ebenen (von der lokalen über die nationale bis zur supra­natio­nalen) negative Effekte erwarten lässt.

Gerade deswegen sind Strategien notwendig, die radikal-reformerischen - also keineswegs nur auf kleine­re Begradigungsmaßnahmen im begrenzten Feld der Kulturpolitik abzielenden - Elemente des kulturpoli­tischen Diskurses in Europa zu stärken und zu vernetzen. Der Begriff "radikal-reformerisch" soll dabei anzeigen, dass es - vor allem im gouvernementalen Setting - unsrer Ansicht nach einerseits nicht reicht, in abstrakter Negation die diversen Staatsapparate anzugreifen, soziale Bewegungen als das absolut Andere der Institutionen (seien sie staatliche Bürokratien, freie NGOs oder autonome Selbstorganisatio­nen) zu verstehen. Andererseits geht es hier durchaus auch darum, Brüche herzustellen, die die verein­nahmende Verstrickung im Netz der vervielfältigten Mediation durchschneiden. Es geht dabei um andere Methoden als die der Intervention von Interessenvertretungen und Lobbies, und es geht um die Forcie­rung von Inhalten, die sich wenigstens auf Zeit der Umcodierung widersetzen: etwa in der exemplari­schen Idee der französischen Intermittents, die nicht nur ihre Rechte verteidigen, sondern auch die Ausweitung dieser Rechte vom Feld der Kulturarbeit in Richtung eines allgemeinen Grundeinkommens verlangen; oder in der Forcierung einer allgemeinen Strategie gegen die Festung Europa, die gegen die repressiven Maßnahmen im Bereich der Sicherheits- , Migrations-, Asyl- und Rechtspolitik ankämpft.

Neben dem Austausch von Wissen über die kulturpolitischen Entwicklungen in den verschiedenen Regionen Europas ist diese Studie also auch Mittel der Verkettung der AkteurInnen dieses Segments. Unter anderem sollen damit Bewusstsein, (Selbst-)Kritik und Reflexion der politischen Rolle von (Kunst-) Institutionen als AgentInnen (mit positiver und negativer Wirkungsmächtigkeit) gestärkt werden. Schließlich sollen die zu erarbeitenden Strategien die Transversalisierung des radikal-reformerischen kulturpolitischen Diskurses forcieren. Die Chiffre 2015 bekommt damit auch den Charakter eines möglichen Ziels politischer Formierung.

Dank an Isabell Lorey und meine eipcp-KollegInnen Andrea Hummer, Raimund Minichbauer und Stefan Nowotny für Kritik und Beratung.


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