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10 2013
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Interview mit Achille Mbembe anlässlich des Erscheinens von Critique de la raison nègre

Übersetzt von Birgit Mennel

Achille Mbembe, Arlette Fargeau

Das neue Buch von Achille Mbembe ist ein intellektuelles und literarisches Feuerwerk

Birgit Mennel (translation)

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Von der Postkolonie im Jahr 2000, Sortir de la grand nuit zehn Jahre später und jetzt: Critique de la raison nègre. Das sind bereits die Konturen eines wirklichen Werks. Können Sie anlässlich des Erscheinens Ihres neuen Essays in einigen Worten die großen Linien Ihres intellektuellen Werdegangs nachziehen?

Mir liegt daran, ausgehend von Afrika, wo ich lebe und arbeite, zu einer politischen, kulturellen und ästhetischen Kritik unserer Zeit beizutragen. Es handelt sich um eine Zeit, die unter anderem durch eine tiefe Krise der Beziehungen zwischen Demokratie, Erinnerung und der Idee einer Zukunft gekennzeichnet ist, die die Menschheit in ihrer Gesamtheit teilen könnte. Diese Krise hat sich durch das Miteinander-Verschmelzen von Kapitalismus und Animismus ebenso verschärft wie dadurch, dass derzeit alle Bereiche unserer Existenz in und durch die Sprache der Ökonomie und der Neurowissenschaften neu kodiert werden. Diese Neukodierung stellt die Idee in Frage, die wir uns zumindest seit dem 18. Jahrhundert vom menschlichen Subjekt und den Bedingungen seiner Emanzipation gemacht haben.

Eine der starken Thesen Ihres neuen Essays lautet, dass sich der Neoliberalismus in einer Universalisierung der „condition nègre“ auswirkt. Was verstehen Sie unter „Neoliberalismus“?

Das gegenwärtige Denken hat vergessen, dass sich der Kapitalismus seit seinen Anfängen immer schon auf einen rassisierenden Boden gestützt hat. Mehr noch, seine Funktion bestand niemals nur in der Produktion von Waren, sondern auch von „Rassen“ und „Spezies“. Unter Neoliberalismus verstehe ich das Zeitalter, im Zuge dessen das Kapital alle Filiationsverhältnisse diktieren will. Es versucht, sich in einer unendlichen Serie von Schulden zu vervielfältigen, die zu einer strukturellen Zahlungsunfähigkeit führen. Tatsache und Fiktion rücken immer näher zusammen. Kapitalismus und Animismus sind jetzt eins. Unter diesen Umständen bilden die systemischen Risiken, denen zur Zeit des ersten Kapitalismus nur die „Negersklaven“ ausgesetzt waren, wenn schon nicht die Norm, so doch das Schicksal der subalternen Menschheiten. Dies führt tendenziell zu einer Universalisierung der „condition nègre“, die mit dem Auftauchen bisher nicht dagewesener imperialer Praktiken ebenso einhergeht wie mit einer Rebalkanisierung der Welt und mit einer Intensivierung von Praxen der Zoneneinteilung. Diese Praxen stellen im Grunde eine Produktionsweise neuer menschlicher Unterarten dar, die, so sie nicht vernichtet werden, dazu bestimmt sind, abgestellt und vergessen zu werden.

Ihr Essay eröffnet mit einer Aufsehen erregenden Erklärung, die nahezu an ein Manifest erinnert. Sie behaupten, dass Europa nicht länger das Gravitätszentrum der Welt ist. Und dennoch greifen Sie unablässig auf seine Archive zurück. Warum?

Es ist zwingend notwendig, sich mit diesem Archiv zu beschäftigen. Es beinhaltet einen Teil unserer selbst und ist daher auch unser Archiv. Wenn es um die euro-amerikanischen Welten geht, können wir uns den Luxus der Indifferenz nicht leisten und uns keine Ignoranz erlauben. Ignoranz und Indifferenz sind die Privilegien der Mächtigen.

Warum dieser Rekurs auf den Westen, wo doch, Ihnen zufolge, seine Hegemonie im Rückzug begriffen ist?

Es geht nicht um einen Rekurs. Es geht darum, in einer Tradition zu leben, die uns in keiner Weise fremd ist und in der wir keine Fremden sind. Wir waren wesentlich am Prozess ihrer Konstituierung beteiligt. Es wäre daher ein immenser Verlust, wenn wir uns davon abschneiden würden, was wir mit in die Existenz gebracht haben. Ich denke beispielsweise an die Afro-Amerikaner_innen oder an die Afro-Europäer_innen, die von Rechts wegen Westliche sind. Und was die Afrikaner_innen angeht, so besteht die Herausforderung darin, mehrere Welten und Formen der Intelligibilität zugleich zu bewohnen, und zwar nicht in der Geste eines unmotivierten Abstands, sondern als ein Hin und Her, das die Artikulation eines Denkens der Durchquerung und der Zirkulation erlaubt. Diese Art von Denken birgt enorme Risiken. Aber diese Risiken würden noch schwerer wiegen, wenn man sich hinter dem Kult der Differenz verschanzt.

Was werfen Sie dem europäischen Denken vor?

Einige halten ihm seinen Solipsimus vor und seine Abhängigkeit von der Fiktion, der zufolge di_e Andere unsere Kehrseite darstellt. Oder auch seine Unfähigkeit anzuerkennen, dass es in der Welt, in der wir wohnen, plurale Chronologien gibt, und dass das Denken die Aufgabe hat, all diese Bündelungen zu durchqueren. Mit dieser Geste, die Zirkulation, Übersetzung, Konflikt und auch Missverständnisse impliziert, verbinden sich Fragen, die sich von selbst lösen. Und die Lösung dieser Probleme macht es möglich, dass gemeinsame Forderungen – Forderungen nach einer möglichen Universalität – relativ deutlich zutage treten. Es ist diese Möglichkeit der Zirkulation und des Zusammentreffens von verschiedenen Intelligibilitäten, die das Denken der Welt einfordert.

Gibt es ein europäisches Denken?

Es gibt nicht „ein“ europäisches Denken. Was es hingegen gibt, sind Kräfteverhältnisse innerhalb einer sich unaufhörlich verändernden Tradition. Was die gegenwärtigen Bemühungen angeht, insbesondere im Süden, eine Reflexion im Weltmaßstab zu entwickeln, so besteht unsere Arbeit darin, auf diese Kräfteverhältnisse einzuwirken und auf diese inneren Reibungen Druck auszuüben. Damit soll nicht der Abstand zwischen Afrika und Europa vergrößert oder Europa „provinzialisiert“ werden. Vielmehr geht es darum, noch größere Breschen schlagen, um so den rassistischen Kräften entgegenzutreten, die im Grunde Kräfte der Gewalt, der Schließung und des Ausschlusses sind.

Wo steht ihrer Meinung nach insbesondere das französische Denken?

Nach der Dekolonisierung hat sich Frankreich in sich selbst verkrochen und nach und nach seine Fähigkeit verloren, ein Denken im Weltmaßstab zu entwickeln. Heute bemüht sich es sich, kaum dass es die Identitätsfrage los wurde, darum, die Frage des Verhältnisses, der Knotenpunkte von Verhältnissen und des Gemeinschaftlichen zu stellen.

Muss man Sie als einen Theoretiker des Postkolonialismus vorstellen?

Die Tatsache, dass ich ein Werk mit dem Titel Von der Postkolonie geschrieben habe, hat aus mir keinen Theoretiker des Postkolonialismus oder einen Adepten dieser Denkströmung gemacht. Man muss mich nicht gelesen haben, um mich als Theoretiker des Postkolonialismus zu präsentieren.

In Frankreich, wie übrigens auch in Afrika werden Sie dieser Strömung zugeordnet.

Diejenigen, die mich so klassifizieren, wissen in den seltensten Fällen, wovon sie sprechen. Viele derer, die Postcolonial Studies in Afrika großreden, hantieren mit ideologischen Argumenten, statt jene Werke, denen sie sich scheinbar entgegenstellen, einer strengen und disziplinierten Analyse zu unterziehen. Es gibt eigentlich keine bessere Kritik der postkolonialen Strömung als die postkoloniale Strömung selbst. In Frankreich gibt es viele, die sich wünschen würden, wir wären stumm, würden nicht sprechen und vor allem nicht miteinander sprechen. So könnten sie dann unseren Diskurs an unserer Statt konstruieren und uns weiterhin ausrichten. Das postkoloniale Denken schickt sich an, diese exklusive Macht der Benennung zu unterbrechen. Das ist es, was dieses Denken lästig macht.

Sie haben bis jetzt zu historisch relativ kurzen Sequenzen gearbeitet. Mit der Critique de la raison nègre werden sie ein wenig zum Historiker. Wie erklären Sie diesen Richtungswechsel?

Es war das Thema, das mir eine Rückkehr zu einer längeren Periode abverlangt hat.. Der „Neger“ ist eine Erfindung dessen, was ich im Buch „den ersten Kapitalismus“ nenne. Die Zeit des ersten Kapitalismus ist – zumindest so, wie ich ihn begreife – vom Atlantik dominiert. Das moderne Zeitalter im eigentlichen Sinne beginnt mit der europäischen Expansion, mit der Verteilung  der Bevölkerungen und der Formierung großer Diasporas sowie mit einer beschleunigten Bewegung von Waren, Religionen und Kulturen. Die Sklavenarbeit spielt in diesem Prozess eine herausragende Rolle. Es war daher nötig, bei dieser langen Zeit zu verweilen, ohne die man die gegenwärtige Wirklichkeit nicht begreifen knn.

Ist der „Neger“ nicht nur eine Erfindung des atlantischen Kapitalismus? Welchen Stellenwert hat seine Fabrikation ihrer Meinung nach in den indisch-ozeanischen und den arabisch-transsaharischen Welten?

Die atlantische Sklaverei ist der einzige multi-hemisphärische Unterwerfungskomplex, der Menschen afrikanischer Herkunft in Waren verwandelt. So gesehen ist die atlantische Sklaverei die einzige, die den „Neger“ erfunden hat, das heißt, eine Art Menschen-Ding, Metall-Menschen, Geld-Menschen, plastischen Menschen. In den Amerikas und der Karibik wurden die menschlichen Wesen erstmals in der Universalgeschichte zu lebenden Totenkammern des Kapitals. Der „Neger“ ist der Prototyp dieses Prozesses.

Sie räumen der diasporischen und vor allem der afro-amerikanischen Geschichte einen ziemlich zentralen Platz ein. Sie insistieren insbesondere auf der Ambiguität der Beziehungen zwischen den Afro-Amerikaner_innen und Afrika.

Die Geschichte der Menschen afrikanischen Ursprungs vor allem in den Vereinigten Staaten ist eine Geschichte, die mich immer fasziniert hat. Die Afro-Amerikaner_in ist in hohem Maße eine Wiedergänger_in der Moderne. Die Geschichte der Schwarzen in den Vereinigten Staaten müsste in allen Schulen, vor allem in Afrika, unterrichtet werden.

Sie widmen dem Konzept der „Rasse“ und des „Rassismus“ viele Seiten. Woran erkennt man ihrer Meinung nach den Rassismus?

Der Rassismus ist die Figur einer phobischen, obsessiven und gelegentlich hysterischen Neurose. Die Rassist_in ist jemand, der Hass als Bestärkung dient, weil sie di_e Andere nicht als ihresgleichen, sondern als bedrohliches Objekt entwirft, vor dem man sich – wenn man es schon nicht vollständig beherrschen kann – schützen muss, dessen man sich entledigen muss oder das man ganz einfach zerstören muss. Di_e Rassist_in ist ein hochgradig kranker Mensch, der keinen Zugang zu sich selbst hat und unter Schwäche leidet.

Das poetischste, aber auch das chaotischste Kapitel des Buches trägt den Titel „Requiem für den Sklaven“. Dieses Kapitel trägt das ganze Buch. Ich bemühe mich hier darum, aufzuzeigen, dass– in Afrika und in den „Neger-Dingen“ –  zwei blinde Kräfte mal einen noch kaum von der Bildhauerkunst berührten Lehm, mal ein phantastisches Tier und immer eine sakrale, metaphorische Figur bearbeiten, die kaskadenartig zerspringen kann. Zudem möchte ich zeigen, dass der „Negersklave“ im Grunde ein plastisches Subjekt war, das heißt, ein Subjekt, das der Transformation durch Zerstörung unterworfen war.

Ich zeige vor allem, dass der „Neger“ dieser Transformation durch Zerstörung dadurch die Bedeutung einer Zukunft auferlegen konnte, dass er sich von der Sklavenform befreit hat und die Bedingung des Wiedergängers auf sich genommen hat. Um all das zu behandeln, war ich gezwungen auf eine bildliche Schreibweise zurückzugreifen, die zwischen Schwindelgefühl, Auflösung und Zersplitterung oszilliert. Es handelt sich um einen Schreibstil, der aus miteinander verflochtenen Schleifen besteht und dessen Kanten und Linien sich am Fluchtpunkt wieder miteinander vereinigen. Der Term „Requiem“ ist in Wirklichkeit dissonant. Das Requiem wird für die Toten gesungen. Doch hier handelt es sich nicht darum, für die Toten zu singen, sondern die Wiedergänger_innen zu feiern, das heißt, die Subjekte einer Transfiguration. Der Titel dieses Kapitels trägt also die Merkmale eines Irrtums.

Worüber arbeiten Sie gerade und was wird das Thema Ihres nächsten Buches sein?

Ich forsche derzeit zu dem, was ich „Afropolitanismus“ genannt habe.