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03 2011
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Die Menschen in der arabischen Welt sind die neuen PionierInnen der Demokratie

Birgit Mennel

Michael Hardt & Antonio Negri

Birgit Mennel (translation)

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Eine Herausforderung, mit der BeobachterInnen der Aufstände in Nordafrika und im Mittleren Osten konfrontiert sind, besteht darin, diese nicht nur als Wiederholungen der Vergangenheit zu verstehen, sondern vielmehr als genuine Erprobungen der Öffnung neuer politischer Möglichkeiten, deren Bedeutung für Freiheit und Demokratie weit über die Region hinausreicht. Wir hoffen in der Tat, dass die arabische Welt infolge dieses Zyklus von Kämpfen für das nächste Jahrzehnt die Rolle spielen wird, die Lateinamerika für das letzte Jahrzehnt gespielt hat – nämlich die eines politischen Experimentierfeldes für starke soziale Bewegungen und progressive Regierungen von Argentinien bis Venezuela und von Brasilien bis Bolivien.

Diese Revolten führten ganz unmittelbar eine Art von ideologischem Hausputz durch und räumten mit den rassistischen Vorstellungen eines Kampfs der Kulturen auf, welche die arabischen Politiken der Vergangenheit zuordnen. Die Multituden in Tunis, Kairo und Bengasi bringen die politischen Stereotype ins Wanken, wonach die Araber auf die Wahl zwischen säkularen Diktaturen und fanatischen Theokratien beschränkt sind oder es den MuslimInnen an Befähigung zu Freiheit und Demokratie mangle. Selbst die Bezeichnung dieser Kämpfe als „Revolutionen“ scheint KommentatorInnen in die Irre zu führen, die davon ausgehen, dass die Abfolge der Ereignisse der Logik von 1789 oder 1917 bzw. einer anderen europäischen Rebellion gegen KönigInnen und ZarInnen folgen muss.

Die Revolten im arabischen Raum haben sich am Problem der Arbeitslosigkeit entzündet. Ihren Kern bildete eine gut ausgebildete Jugend mit enttäuschten Ambitionen – eine Bevölkerung, die sehr viel mit den protestierenden Studierenden in London und Rom gemeinsam hat. Obschon die Hauptforderung in der gesamten arabischen Welt den Akzent auf das Ende von Tyrannei und autoritären Regierungen setzte, versammelt sich hinter diesem einfachen Ruf eine ganze Reihe von Arbeit und Leben betreffenden sozialen Forderungen, die nicht nur auf ein Ende von Abhängigkeit und Armut zielen, sondern darauf, einer intelligenten und äußerst befähigten Bevölkerung Macht und Autonomie zu geben. Dass sich Zine el-Abidine Ben Ali und Hosni Mubarak oder Muammar al-Gaddafi von der Macht verabschieden, ist nur der erste Schritt.

Die Organisation dieser Revolten gleicht dem, was wir seit mehr als einem Jahrzehnt in anderen Teilen der Welt, von Seattle bis Buenos Aires und von Genua bis Cochabamba in Bolivien, erleben: ein horizontales Netzwerk ohne zentralen Anführer. Traditionelle Oppositionsgremien können Teil dieses Netzwerks sein, aber sie können es nicht anführen. Externe BeobachterInnen versuchten seit dem Ausbruch der ägyptischen Revolten, einen Anführer zu bestimmen: Vielleicht ist es el-Baradei, vielleicht aber auch der Marketingchef von Google, Wael Ghonim. Sie befürchten, dass die Muslimbrüder oder irgendein anderer Zusammenschluss die Kontrolle über die Ereignisse übernehmen wird. Sie verstehen nicht, dass sich die Multitude ohne Zentrum organisieren kann und dass das Aufzwingen eines Anführers bzw. die Kooptation durch eine traditionelle Organisation ihre Macht unterminieren würde. Die Verbreitung von sozialen Netzwerktools wie Facebook, YouTube und Twitter in den Revolten ist ein Symptom und nicht die Ursache dieser Organisationsstruktur. Es handelt sich um Ausdrucksmodi einer intelligenten Bevölkerung, die im Hinblick auf eine autonome Organisierung mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten umzugehen weiß.

Wenngleich diese organisierten Netzwerkbewegungen eine zentrale Anführerschaft ablehnen, müssen sie ihren Forderungen dennoch in einem neuen konstituierenden Prozess Festigkeit geben, der die aktivsten Segmente der Rebellion mit den Bedürfnissen der Bevölkerung verbindet. Die Revolten der arabischen Jugend zielen ganz sicher nicht auf eine traditionelle liberale Verfassung als bloße Garantin von Gewaltenteilung und regulärer Wahldynamik, sondern vielmehr auf eine Form von Demokratie, die den neuen Artikulationsformen und Bedürfnissen der Multitude angemessen ist. Diese muss in erster Linie die verfassungsmäßige Anerkennung der Redefreiheit beinhalten – und zwar nicht in der Form, die für die herrschenden und fortwährend der Korruption durch Regierungen und Wirtschaftseliten unterworfenen Medien typisch ist, sondern in einer Form, in der die gemeinsamen Erfahrungen von Netzwerkbeziehungen repräsentiert werden.

Angesichts dessen, dass sich diese Aufstände nicht allein an weitverbreiteter Arbeitslosigkeit und Armut entfacht haben, sondern auch am verallgemeinerten Sinn für die enttäuschten Produktionspotenziale und Ausdrucksfähigkeiten vor allem junger Menschen, muss eine radikale konstitutionelle Antwort einen gemeinsamen Plan zur Verwaltung natürlicher Ressourcen und sozialer Produktion erfinden. Dies ist eine Schwelle, die der Neoliberalismus nicht überschreiten kann und durch die der Kapitalismus in Frage gestellt wird. Und auch eine islamische Herrschaft kann diesen Bedürfnissen nicht entsprechen. Die Rebellion rührt hier also nicht nur an die in Nordafrika und im Mittleren Osten etablierten Gleichgewichte, sondern greift auch das globale System ökonomischer Governance an.

Deshalb hoffen wir, dass der Zyklus von Kämpfen, die sich in der arabischen Welt ausbreiten, eine ähnliche Rolle spielen wird wie in Lateinamerika; dass er politische Bewegungen inspirieren und die Bestrebungen nach Freiheit und Demokratie jenseits der Region verstärken wird. Gewiss, jede Revolte kann scheitern: Tyrannen können auf blutige Repressionsmaßnahmen zurückgreifen; Militärjuntas können versuchen, an der Macht zu bleiben; traditionelle Oppositionsgruppen können Bewegungen zu kapern versuchen und religiöse Hierarchien können darum ringen, die Kontrolle zu übernehmen. Was jedoch nicht verklingen wird, sind die freigesetzten politischen Forderungen und Wünsche, die Rufe einer intelligenten jungen Generation nach einem anderen Leben, in dem sie ihre Fähigkeiten zum Einsatz bringen kann.

So lange diese Forderungen und Wünsche leben, werden die Kampfzyklen fortbestehen. Die Frage ist, welche Lehren die Welt aus diesen neuen Erprobungen von Freiheit und Demokratie im Laufe des nächsten Jahrzehnts ziehen wird.